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Mein erster Ultramarathon.

manuela.dannwolf • Oct 16, 2017

71 Kilometer beim Taubertal 100.

„Muss das sein?“, fragte meine Mutti, als ich ihr von meinem neuen Vorhaben erzählte. „Du wolltest dieses Jahr doch langsamer machen!“ „Ja!“ antwortete ich. „Genau das ist mein Plan!“ Meine Mutter seufzte und fragte nicht mehr weiter – sie kennt mich und meinen Dickkopf seit 38 Jahren. Ich grinste, streichelte mein Knie und startete mein 9-wöchiges Training für die 71 Kilometer beim Taubertal100.

Die Frage meiner Mutter war berechtigt. Sie war dabei, als ich 200 Kilometer vor Santiago de Compostela weinend im Wald stand, weil mein Knie vor Schmerzen nicht mehr weitergehen wollte. Mit vielen Höhen und Tiefen begleiten mich meine Knieschmerzen seitdem bei jedem Schritt. Etliche Arztbesuche, Physiotermine, Chiropraktiker-Stunden und Blackroll-Sessions haben keinen nennenswerten Erfolg gebracht. Eine Cortison-Spritze brachte kurzzeitige Besserung, doch nach einigen Wochen kamen die Schmerzen wieder. Wäre ja auch zu schön gewesen.

Und dennoch: Ich hatte mir mein Ziel gesetzt. Ich wollte dieses Jahr einen Ultramarathon laufen. Egal, wie unvernünftig es sein mochte. Egal, wie viel Schmerzen es mir bereiten würde. Ich würde alles geben, um dieses Ziel zu erreichen. So bin ich eben: hoffnungslos verliebt ins Laufen. Auch wenn meine Liebe mir manchmal sehr weh tut.

Mein Trainingsplan trug den Titel „In Würde ankommen“ und der Titel war Programm: Die Zeit war mir egal. Bei meinem ersten Ultramarathon ging es darum, die für mich unvorstellbare Distanz von 71 Kilometern zu meistern. An die vorgegebenen Wochen-Kilometer hielt ich mich nur sehr sporadisch. Dennoch war das Training kein Zuckerschlecken. Mir fielen die langsamen, langen Läufe wirklich schwer. Es ist schon eine krasse Umstellung, das Tempo bewusst zu drosseln und langsamer als im eigenen Wohlfühltempo zu laufen. Vor allem für den Kopf. Die Kilometer scheinen sich ins Endlose zu ziehen – und nicht minder anstrengend zu sein. Wie oft dachte ich verzweifelt nach 20 Kilometern: „Und jetzt nochmal 51 Kilometer – wie soll ich das schaffen?“ Oder nach einem anstrengenden 35 Kilometer-Lauf: „Jetzt hättest du gerade mal die Hälfte geschafft.“ Der Kopf ist ein Teufel, wenn er anfängt zu grübeln. Er kann dafür sorgen, dass du über dich hinaus wächst – oder dass du aufgibst, noch bevor du an den Start gehst.

Ich entschied mich für Ersteres und biss mich durch. Allen Zweifeln und Ängsten zum Trotz. Und langsam, ganz langsam, gewöhnte sich mein Körper an die neue Belastung. Mein Durchschnittspuls wurde niedriger – auch bei den schnellen Einheiten - und die langen Läufe zehrten nicht mehr so sehr an meinem Körper. Ich hatte zwar schon oft den Spruch gehört: „Wenn du schnell laufen willst, musst du lernen, langsam zu laufen.“ Aber wirklich geglaubt hatte ich nie daran. Nun spürte ich es am eigenen Körper.

So gelang es mir, meinen ersten Trainingsmarathon im 6er-Schnitt zu absolvieren und zwei Tage später einen sehr zügigen 15 Kilometer-Tempolauf zu machen. Vier Wochen vor dem Taubertal100 dann mein erster Trainings-Ultralauf: 50 Kilometer um den Starnberger See. Eine Woche später 40 Kilometer – mein Geburtstagslauf – gefolgt vom Berlin-Marathon am 24. September. Danach hatte ich ordentlich Schmerzen im Knie, also legte ich zwei Wochen Laufpause ein. Meine Devise: Lieber ausgeruht und weniger trainiert an den Start gehen als noch mehr in die Schmerzen reinlaufen.

Ob mein Plan aufgehen würde?

Am 07. Oktober war es dann so weit: Ich stand an der Startlinie des Taubertal100. Gemeinsam mit etwa 230 anderen Laufverrückten wartete ich bei stockdunkler Nacht auf den Startschuss, der pünktlich um 6 Uhr fallen sollte. Zuvor hatten wir beim Fackellauf die etwa 1 Kilometer lange Strecke vom Hotel Rappen zum Startpunkt zurückgelegt und waren von einem Ritter hoch zu Ross zu unserer Lauf-Reise ausgesandt worden. Mit dem Segen eines echten Ritters konnte ja wohl nix mehr schiefgehen.

Gesegnet fühlte ich mich wirklich, als der Startschuss fiel. Es war wie eine Erlösung. Ich trabte locker los. Zu Beginn relativ weit hinten im Feld und fröhlich tratschend, dann etwas zügiger in meinem eigenen Wohlfühltempo, die kühle Nacht und meine Gedanken genießend. Meine Beine liefen locker und mein Kopf hüpfte vergnügt von einem Gedanken zum nächsten. Nebenbei schälte sich der neue Tag aus seinem dunkelblauen Nachtgewand und verwöhnte uns zwar nicht mit Sonnenschein, aber verschonte uns zumindest von Regen.

Ich hatte mir im Vorfeld oft überlegt, nach welcher Strategie ich laufen würde. Am Morgen die Entscheidung: ich würde alle 10 Kilometer eine Pause machen und mich mit Gel und Getränken stärken. Es schien mir sinnvoll, die lange Strecke in kleine, überschaubare Einheiten zu unterteilen und zu versuchen, mich ausschließlich auf die vor mir liegende Verpflegungsstation zu konzentrieren.

Diese Herangehensweise funktionierte sehr gut für mich. An den Verpflegungsstationen hielt ich mit den Streckenposten ein Pläuschchen, dehnte meine Beinrückseite und ließ mir genügend Zeit für eine Verschnaufpause. Ich hatte extrem gute Laune und schon lange nicht mehr solch einen Spaß beim Laufen. Was mir half: ich konzentrierte mich alle 10 Kilometer auf einen besonderen Menschen in meinem Leben. So schweifte ich in Gedanken vom Jakobsweg mit meiner Mutter zu wilden Partys meiner Jugend mit meiner besten Freundin hin zu den ersten Wanderungen mit meinen Großeltern. Diese positiven Erinnerungen trugen mich beschwingt durch die ersten 30 Kilometer.

Doch dann, so etwa bei Kilometer 34, war es mit der Leichtigkeit vorbei. Plötzlich spürte ich mein Knie immer deutlicher, meine Beinrückseite zwickte unangenehm und die Vorstellung, dass noch 37 Kilometer vor mir lagen, begann auf mir zu lasten wie eine Weste aus Blei. Mein zuvor so lockerer Laufstil wurde schwerfällig, mein Tempo entsprechend langsamer. Ich redete mir gut zu, telefonierte mit meinem Freund und schwor meinem Körper, bei Kilometer 50 eine ausgedehnte Pause zu machen. Doch als ich endlich in Bad Mergentheim ankam, verpasste ich vor lauter Ablenkung die Verpflegungsstation und fand mich wieder auf der Strecke. Kurze Verzweiflung - doch dann sah ich , wild winkend und lachend, eine junge Frau im Lauf-Liebe-Shirt. "Reiß dich zusammen", dachte ich mir. Ich hielt an, wir wechselten ein paar Worte, schossen ein Selfie und ich wollte schon weiterlaufen - da sah ich die Cola in der Hand ihres Mannes. Ich muss ziemlich verzweifelt geschaut haben - jedenfalls gab er mir ein paar Schlucke ab. Die haben mich gerettet.

Als es endlich weniger als 20 Kilometer bis zum Ziel in Tauberbischofsheim waren, entwickelte mein Körper neue Lauf-Energie. Inzwischen lief ich ganz alleine durch Wälder, Wiesen und geschäftige Stadtteile. An einigen Stellen war ich mir nicht mehr sicher, ob ich noch auf der richtigen Strecke war. Doch zum Glück erspähte ich immer wieder eine blaue, auf den Boden gesprühte „100“. So erreichte ich gut gelaunt den letzten Streckenposten bei Kilometer 65. Ich scherzte mit den Helfern, erwischte aus Versehen ein Becher Bier anstatt Apfelsaftschorle, und machte mich dann auf die letzte Etappe meines Weges.

Obwohl nur noch 6 Kilometer vor mir lagen, wurde es dann nochmal richtig hart. Irgendwie war die Luft raus, mein Gel-Vorrat erschöpft und jeder Kilometer ein Kampf gegen die aufsteigende Müdigkeit in meinen Beinen. Allein der Gedanke ans nahende Ende ließ mich weiterlaufen. Und da tauchten sie endlich vor mir auf, die Fahnen des Türmersturms vom Kurmainzischen Schloss zu Tauberbischofsheim. Majestätisch wehten sie im Wind, fast wie im Märchen. Ich hatte es geschafft. Das war mein Happy End. Mir schossen die Tränen in die Augen, noch bevor ich den Zielbogen erspähen konnte. Überglücklich lief ich über die Pflastersteine des historischen Marktplatzes, am Stadtbrunnen vorbei ins Ziel. Und als ich, vor Freude weinend, meine Siegermedaille entgegennahm und jeden umarmte, der sich nicht schnell genug vor meiner überschwenglichen Lauf-Liebe retten konnte, da wusste ich: „Ja, Ultralaufen muss sein. Nächstes Jahr schaffe ich die 100.“

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