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Ein echt harter Kerl!

Ela Dannwolf • Jun 11, 2022

Wie mein Papa seinen ersten (und einzigen) Marathon finishte.

Der Papa kam zum Marathon laufen wie die meisten Männer: durch eine Wette. Nun ja, eigentlich war es ein Versprechen - seinem Boss gegenüber. Er und mein Dad war ein paar Mal joggen gewesen und irgendwann kam es, wie es kommen musste: der Boss stellte die M-Frage. "Wollen Sie nicht mal einen Marathon laufen? Wissen Sie, so ein Marathon, das ist was für richtige Kerle." Nun ja, was soll man seinem Chef da schon antworten? "Nöö, Chef, ich hab's nicht so mit dem Durchbeißen. Eigentlich bin ich eher so der 10-Kilometer-Weichei-Typ."


"Na klar laufe ich mit!", antwortete der Paps also. "Hatte ich mir eh schon lange mal vorgenommen, so nen Marathon." Da strahlte der Chef: "Hab ich's doch gewusst, dass Sie ein Sieger-Typ sind. Ich melde Sie an - das wird ein einmaliges Erlebnis, das verspreche ich Ihnen!" Sprach's, klopfte dem Papa auf den Rücken und trabte fröhlich davon. Der Papa wurde etwas kurzatmig. Er wusste nicht recht, ob dies am gesteigerten Tempo lag oder an der Vorfreude, bald auch zum Kreis der harten Kerle zu gehören.


Der 16. Schönbuch-Marathon fand am 20. Mai 1990 statt. Besagte M-Frage hatte der Boss irgendwann im Herbst gestellt. Blieb dem Papa also genug Zeit, sich auf den Harte-Männer-Status vorzubereiten. Jeden Tag wurden fortan die Laufschuhe geschnürt und bei Wind und Wetter ausgeführt. So einem harten Kerl, dem macht ein bisschen Wind doch nichts aus. Oder Schneeregen. Oder Hagel. Oder ein Schneesturm. Nur Tannenzapfen, die können manchmal ganz schön gefährlich sein. Besonders dann, wenn die Waden des angehenden harten Kerls noch nicht Stahl-Status erreicht haben. So kam es also, dass sich mein Vater eines Tages im Dezember 1989 einen Wadenbeinbruch zuzog. Doch da er sich zu dieser Zeit im Rambo-Modus befand, sollte er davon erst einige Trainingswochen später erfahren. Dann nämlich, als ihm nach fünf Tagen Skifahren das Bein ein wenig zwickte. Die Diagnose des Arztes: Wadenbeinbruch. Bereits ausgeheilt. Gut, dann konnte das Training ja weitergehen.


Als das Zwicken in der Wade nicht aufhören wollte, riet der Arzt dem Papa etwas kürzer zu treten. Nach seiner Einschätzung war es nämlich nicht der Tritt auf den Tannenzapfen gewesen, der den Bruch verursacht hatte, sondern das zu schnell erhöhte Trainingspensum. "Ermüdungsbruch - in meiner Stahlwade?" Das fand der Papa völlig abwegig. Aber da sich die Dinger häufig auf Waldwegen tummeln, unverschämterweise, schnürte der Papa etwas weniger häufig die Laufschuhe. Aus reinen Tannenzapf-Gründen, versteht sich.


Und dann war er da, der Tag X. Inzwischen war es herrlichstes Frühlingswetter. Blumen blühten mit Bäumen und Sträuchern um die Wette, Bienen summten fleißig und Schmetterlinge tanzten verliebt durch die Luft. Es war ein wahres Frühlings-Blumen-Paradies für jeden - außer für Allergiker wie meinen Paps. Für den war jede Blume eine Pollenschleuder und jeder blühende Baum der nasale Supergau. So erwachte er am Marathontag unter strahlend blauem Himmel bei angenehmen 18 Grad mit einer Nase, deren Schleimhäute mit seinen Augen um die Wette schwollen. Ganz zu schweigen von seinem Hals, der juckte, als hätte sich eine mit Zuckerwasser gedopte Ameisenkolonie darin verlaufen. Aber egal, wie sagt man so schön? Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Und ein Läufer schon gar nicht. Also schnell Tropfen in die Augen, Spray in die Nase und zwei Päckchen Taschentücher in die Hosentasche gesteckt, dann konnte es losgehen. Der Chef wartete bestimmt schon. 


An der Strecke angekommen, wühlte sich mein Dad am vereinbarten Treffpunkt erwartungsvoll durch die Testosteron-geladene Meute. Frauen hatten 1990 bei Marathons noch Seltenheitswert. Von den 232 Startern waren gerade einmal 15 weiblich. Innerlich legte er sich bereits eine harte Männer-Geschichte zurecht, wie er trotz Allergie-Schock und Fast-Einlieferung in die Asthma-Notklinik den Start wagen würde. So ein bisschen Heuschnupfen würde ihn schon nicht davon abhalten, heute eine starke Zeit zu laufen, da brauchte sich der Chef keine Sorgen zu machen. Schließlich war er ein Siegertyp. Insgeheim fragte er sich, ob andere Siegertypen auch unter Heuschnupfen litten.


Es vergingen 15 Minuten, 20, 30. Zahlreiche Siegertypen fanden sich im Startbereich ein, nur sein Chef, der blieb verschwunden. Auch dann noch, als der Countdown zum Start angezählt wurde und sich die Testosteron-Meute in Bewegung setzte. Erst später sollte mein Paps erfahren, dass sich sein Chef spontan unpässlich gefühlt und daher beschlossen hatte, lieber zu Hause zu bleiben. Auch ein harter Kerl müsse vernünftig sein und wissen, dass man einen Marathon nur in Top-Form liefe. So stand mein Paps also ohne seinen Chef, dafür mit zugeschwollenen Augen und laufender Nase an der Startlinie und wusste nicht recht, ob er loslaufen oder sich lieber ebenfalls unpässlich fühlen sollte. Da er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass harte Kerle auch mal vernünftig sein durften, fasste er sich an die Hose, fühlte seine beiden Taschentuch-Packungen und sagte sich: "So lange ihr beiden da seid, ist alles gut." Dann trabte er los.


Die ersten Kilometer waren herrlich. Die Stimmung, die Strecke, das Tempo - alles war perfekt. Der Chef hatte Recht gehabt. Toll, so ein Marathon. Die Zuschauer feuerten ihn an wie einen Rockstar. Und je länger Paps lief, desto mehr fühlte er sich wie einer. Ein Rockstar in Laufshorts und Funktionshemd. Trug Keith Richards auch gerne Stirnband? Gut, die blutenden Nippel...er hatte ja nicht an alles denken können heute morgen. Die Taschentücher waren wichtiger gewesen. Ob die auf seiner Brust halten würden? Eng genug war das Laufshirt ja...Mist, sie hielten nicht. Aber gut, so ein bisschen Blut auf dem Shirt ließ ihn verwegener erscheinen - wie ein echter Gladiator kam er sich vor. Unglaublich männlich. Unverschämt tapfer. Fast schon todesmutig. So ein richtig harter Kerl eben. Also weiter getrabt. Rock 'n Roll! Alles war im Fluss. Das Grinsen reichte bis über beide Ohren.


Bis Kilometer 28. Ab da floss bei meinem Dad nur noch eines: die Nase. Der Taschentuch-Vorrat schwand immer schneller, dafür die Kilometerzahl immer langsamer. Irgendwann war auch das letzte Tempo verbraucht und es half nur noch eins: Tempo runter und Nase hochziehen. Das ging gut bis Kilometer 31. Dann der Supergau: Nasenbluten. Das kam gleich hinter Seitenstechen, Wadenkrampf und Durchfall. Und wo verdammt nochmal war jetzt die Erste-Hilfe-Station, wenn man sie mal brauchte? Als das rettende weiße Zelt endlich in Sicht kam, waren Paps Beine blutleer und sein Hemd blutgetränkt wie nach einem Käfig-Kampf. 


"Herrje", sagte die Dame vom Roten Kreuz, als er, nicht ganz so heroisch wie gehofft, ins Krankenlager humpelte. "Also ich glaube, sie sollten den Lauf lieber abbrechen." "Abbrechen? Ich? Das kommt ja wohl gar nicht in Frage! So ein bisschen Nasenbluten hält mich doch nicht vom Laufen ab!"


Was soll ich sagen? Den genauen Gesprächsverlauf kenne ich nicht. Ich weiß nur eins: der Papa hat gefinisht. Mit rot gesprenkeltem Funktionshemd auf der Brust, einem überglücklichen Grinsen im Gesicht - und zwei Tampons in der Nase.


Ein echt harter Kerl eben, mein Papa. 


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