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Tokyo Marathon 2018.

Elle La • Mar 04, 2018

Eine Geh-Eskapade.

Die Reise nach Tokyo trat ich an in der Annahme, dass eine Marathon-Teilnahme für mich unmöglich sein würde. Mehrere Ärzte hatten mir aufgrund akuter Knieprobleme dringend davon abgeraten, einige in Frage gestellt, ob ich überhaupt je wieder würde laufen können. Mein letztes Fünkchen Hoffnung erlosch, als mir eine Bauchnabel-OP zwei Wochen vor Abreise absolutes Sportverbot auferlegte. Es kann wohl nur ein Läufer nachvollziehen, was das für mich bedeutete – und wie viele Tränen ich darüber weinte. Doch wie heißt es so schön? Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Meiner ging 42,2 Kilometer lang.

Als ich an diesem frühlingshaften Samstagnachmittag über die Tokioter Marathonmesse schlenderte, die schrillen Eindrücke der japanischen Lauf-Kultur einsog und mich mit Laufschuh-Shopping von meiner depressiven Laune abzulenken versuchte, fuhren meine Gefühle Achterbahn. Die vielen Wochen des Krankseins und „Sich-schwach-Fühlens“ hatten mich ganz schön aus der Bahn geworfen. Die Vorstellung, in Tokyo zu sein und nicht beim Marathon starten zu können, schubsten mich nun komplett in die „Ein-Leben-Ohne-Laufen“-Depression. Noch nie hatte ich einen Marathon absagen müssen – zumal einer, der mir so wichtig war. Gleichzeitig wusste ich, dass ein Start mich meine Gesundheit kosten könnte.

Für alle, die es nicht wissen: Der Tokyo Marathon gehört seit 2012 zur Serie der „Abbott World Marathon Majors“, einer Marathonserie bestehend aus sechs Marathon-Wettbewerben weltweit. Neben Tokyo sind dies Boston, New York, Chicago, Berlin und London. Mein großes Ziel ist es, die „Six-Star-Medaille“ in den Händen zu halten, bevor ich 40 werde. Tokyo sollte mein vierter Marathon der Serie werden, im Oktober sollte Chicago folgen und nächstes Jahr London. Von etwa 350.000 Bewerbern, die sich dieses Jahr für den Tokyo Marathon beworben hatten, wurden nur etwa 36.000 ausgelost – ich gehörte zu den Glücklichen. Von allem Läuferinnen-Ehrgefühl einmal abgesehen, hatte mich der Spaß inklusive Flug, Hotel und allem Drum und Dran auch eine ganze Stange Geld gekostet. Die Reise „einfach so“ zu wiederholen, war für mich auch budgetär nicht drin. Zudem erschütterte die drohende Nicht-Teilnahme meinen fest verankerten Glauben an das Motto: „Du kannst alles schaffen, wenn du es wirklich willst.“

So wirbelten meine Gedanken hin und her als ich, fast wie selbstverständlich, meine Startunterlagen abholte. Und obwohl mein Knie immer noch bei jedem Schritt schmerzte, mein Körper von zwei Wochen Rumliegen geschwächt war und mein Bauchnabel vom langen Fliegen unangenehm pochte, veränderte sich etwas in mir, als ich meine Startnummer in den Händen hielt. Plötzlich wusste ich: Ich würde es wagen. Allen Unkenrufen und Ängsten zum Trotz. Ich würde beim Tokyo Marathon an den Start gehen. Doch würde ich ihn nicht laufen – das wäre körperlicher Selbstmord gewesen und mit meinem aktuellen Trainingszustand nicht zu schaffen. Ich würde versuchen, die 42,2 Kilometer zu gehen.

Etwa 20 Stunden später fand ich mich im Startbereich der elften Ausgabe des Tokyo Marathon wieder. Ausgerüstet mit meinem noch hastig gekauften Rucksack, einem Paar neuer Handschuhe – es hatte an diesem Morgen frische 6 Grad - und drei Energieriegeln stand ich inmitten all der ambitionierten Läufer des Startblocks C, die offizielle Startlinie nur ein paar hundert Meter von mir entfernt. Es war ein mulmiges Gefühl, so unvorbereitet in dieser Masse ehrgeiziger Sportler zu stehen, zumal ich überhaupt nicht einschätzen konnte, ob mein Vorhaben in meinem derzeitigen körperlichen Zustand gelingen würde. Dennoch schaffte ich es, mich zu beruhigen, die Stimmung zu genießen und einfach nur dankbar zu sein, das alles hier erleben zu dürfen– egal, wie es ausgehen würde.

Dann fiel der Startschuss. Begleitet von lautem Konfetti-Feuerwerk und umwirbelt von Tausenden Papier-Herzen setzte sich die Läufer-Masse in Bewegung – und ich mit ihr. Um die schnellen Läufer nicht zu stören, hatte ich mir vorgenommen, die ersten Kilometer mitzulaufen, bis sich der Trubel etwas gelegt hatte. Das lief bis Kilometer drei ganz gut. Dann zwickten mein Bauch und mein Knie gehörig, sodass ich in den Geh-Modus überging. Mit etwa 6km/h (das entspricht einer 10er-Pace) sollte es ab diesem Zeitpunkt für mich weiter gehen.

Ich hielt mich ganz am Rand der Strecke, sodass die schnellen Läufer gut an mir vorbeikamen. Obwohl ich mich gedanklich darauf eingestellt hatte, von etwa 30.000 Läufern überholt zu werden, empfand ich es als demütigendes Gefühl, im Feld komplett nach hinten gereicht zu werden. Hinzu kam die Scham vor den Zuschauern. Was mochten die wohl von mir denken? Von jemandem, der nach drei Kilometern bereits nicht mehr laufen konnte? Nach ein paar weiteren Kilometern war mir das alles egal. Ab da kämpfte ich nur noch gegen mich, die Uhr und mein schlechtes Gewissen an. Es sollte ein sehr harter - und langer - Kampf werden.

Bei Kilometer zehn wollte ich das erste Mal aufgeben. Ich hätte nur rechts abbiegen müssen, um über die Ziellinie des 10-Kilometer-Wettbewerbs zu gehen, mich in die U-bahn zu setzen und den Rest des Tages entspannt – und heulend - im Bett zu verbringen. Das Weitergehen schien mir die bessere Alternative zu sein. Bei Kilometer 15 bereute ich diese Entscheidung bereits. Die Geh-Kilometer schienen sich ins Endlose zu ziehen. Kurz vor der 20-Kilometer-Marke erspähte ich zum ersten Mal den Besenwagen, der mir drohend auf der anderen Straßenseite entgegenkam. Als ich nach weit über drei Stunden endlich die 21,1 Kilometer-Marke überschritt, war ich den Tränen nahe. So schwer hatte ich es mir nicht vorgestellt – weder körperlich, noch mental. Dennoch ging ich weiter. Ich redete mir gut zu, versuchte mich abzulenken und auf den Marathon-Trubel um mich herum zu konzentrieren.

Die japanischen Lauf-Fans und insbesondere die vielen Helfer an der Strecke waren einfach nur großartig. Über fünf Stunden nach Startschuss feuerten sie uns immer noch an, klatschten und jubelten, als wären wir die Top-Läufer der ersten Start-Welle. Dabei war ich inzwischen in einer der letzten Marathon-Gruppen angelangt. Ein Teil der Verpflegungsstationen wurde bereits abgebaut und hinter uns fuhr bereits wieder der Verkehr. Viele Läufer um mich herum gingen inzwischen, humpelten oder schlurften - und schleppten sich dennoch Kilometer für Kilometer voran. „Wenn die das schaffen, schaffe ich das auch“, dachte ich mir. Langsam kehrte mein Kampfgeist zurück.

Bei etwa Kilometer 32 holte mich eine Laufgruppe ein, die goldene, eckige Luftballons trug. „Die 5-Stunden-Pacer“, dachte ich bei mir - das Zeitgefühl hatte ich zu diesem Zeitpunkt komplett verloren - bis mich einer der Luftballon-Träger anfeuerte, ich solle schneller laufen. Ich zeigte auf mein Knie und sagte: „Sorry, not possible.“ Da raunte er mir in gebrochenem Englisch zu: „If you fall behind us, no finish under 7 hours“, und wedelte dabei wild mit einem Pace-Zettel in seiner Hand. Da dämmerte es mir: Das war die Besengruppe. Alle, die hinter ihr ankamen, wurden nicht gewertet. Panik stieg in mir auf. Sollten all die Strapazen umsonst gewesen sein?

Auf keinen Fall! Also begann ich zu laufen. Keine gute Idee, das wusste ich, als mich mein Knie schmerzend in den Geh-Modus zurückzwang. Aber zu diesem Zeitpunkt aufzugeben kam für mich nicht in Frage. Also musste eine andere Strategie her. Ich suchte mir Fixpunkte an der Strecke, bis zu denen ich lief – meist so etwa 200 Meter entfernt. Dann ging ich wieder. So kämpfte ich mich durch die letzten 10 Kilometer, abwechselnd laufend und gehend und vor mich her fluchend, was für eine bescheuerte Idee das von mir gewesen war. Man bedenke: es lagen immer noch etwa anderthalb Stunden Quälerei vor mir.

Doch dann, nach sich endlos ziehenden Kilometern, kam er endlich: der letzte Kilometer. Mir schossen die Tränen in die Augen, noch bevor ich die Ziellinie sehen konnte. Vierzehn Mal hatte ich den Marathon-Zieleinlauf bereits erlebt. Es war immer ein unbeschreibliches Gefühl gewesen. Doch als ich an diesem 25. Februar 2018 nach 6:22:49h über die Ziellinie ging, war das mit absolut nichts zu vergleichen. Ich hatte es geschafft: ich hatte mit kaputtem Knie und zweieinhalb Wochen nach meiner Bauchnabel-OP einen Marathon gefinisht. Nicht das gesundheitlich Klügste, was ich je gemacht habe, und keinesfalls zum Nachahmen geeignet. Aber für mich und meine Läufer-Seele die zu diesem Zeitpunkt einzig mögliche – und damit richtige - Entscheidung.

Heute, eine Woche nach meiner Geh-Eskapade, bin ich voller Dankbarkeit. Dankbar, dass es gut gegangen ist. Dankbar, dass ich diese Erfahrung machen durfte und dankbar, dass es meinem Bauchnabel sehr gut und meinem Knie zumindest nicht schlechter geht als vorher.

Und ich bin voll tiefstem Respekt: vor all den Läufern, die auch ohne Chance auf Bestzeiten an den Start gehen; die sich im hinteren Feld durchkämpfen, wenn die anderen schon längst im Ziel sind; die fünf, sechs oder sieben Stunden Quälerei mental überstehen und einfach immer weitermachen. Sie sind für mich die wahren Helden – und haben sich die Finisher-Medaille und unsere Anerkennung ebenso hart verdient wie jeder unter-3-Stunden-Läufer. Ein Hoch auf alle Lauf-Schnecken – ich bin stolz, dazuzugehören.

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