Vom Jakobsweg wusste ich bereits, was viele Läufer müde belächeln: Gehen ist anstrengend. Verdammt anstrengend. Jeder, der schon einmal mehr als 30 Kilometer am Stück gegangen ist, wird mir vermutlich zustimmen. Es ist eine andere Anstrengung als beim Laufen. Das Herz-Kreislauf-System wird weniger belastet - zumindest beim Gehen auf flachen Strecken. Dafür arbeiten Muskeln an deinen Füßen, die du noch nicht einmal kanntest. Und, je länger die Strecke wird, umso wichtiger wird ein Muskel: dein Kopf.
Die Anmeldung für den Mammutmarsch am 5. August 2017 in München erfolgte, wie viele Entscheidungen in meinem Leben, sehr spontan. Etwa eine Woche zuvor hatte ich beschlossen, mich auf dieses Erlebnis einzulassen. Am Abend vorher wollte ich alles abblasen. Die Angst, mir wieder mein Knie kaputt zu laufen, war zu groß. Am nächsten Morgen packte ich, wie selbstverständlich, meinen Rucksack. Mein Freund staunte nicht schlecht, als ich ihm verkündete: „Du, Schatzi, ich laufe jetzt doch.“ Augen rollend fuhr er mich zum Start. Zum Glück kennt er mich und meine spontanen Sinneswandel - und erträgt beides.
Das Gewusel beim Start auf einem Sportplatz in Neuaubing war beeindruckend. Über 1.000 Geh-Wütige hatten sich eingefunden, die das Wagnis „100 Kilometer in 24 Stunden“ auf sich nehmen wollten. Viel Zeit zum Genießen hatte ich nicht. Um 14:15 Uhr aus dem Auto gesprungen, meine Startunterlagen abgeholt, mich auf die (Herren-)Toilette geschlichen – für’s Anstehen bei den Frauen war keine Zeit mehr - kurz auf die Wiese gesetzt und meine halbe Butterbrezel gegessen, dabei Petra, eine Schwäbin aus Stuttgart getroffen. Dann in den Startkorridor gestellt. Dort ein paar Worte mit einem Mitläufer gesprochen - und direkt als Laufpartner ausgewählt. Dann fiel der Startschuss – und mein erster Schritt von etwa 120.000 Schritten, die folgen sollten.
22 Stunden und 40 Minuten später sollte ich dort wieder ankommen. Was dazwischen passierte, füllt Seiten. Im Folgenden nur ein paar Auszüge.
Kilometer 1-40: Wir ließen es sehr ruhig angehen auf den ersten Kilometern. Mein Laufpartner und ich hatten uns viel zu erzählen und gingen die ersten 20 Kilometer in einem gemütlichen Tempo bei strahlendem Sonnenschein. Beim ersten Streckenposten dann kurzes Ausdehnen, Wassertanken, Schuhwechsel und: offizielles Vorstellen. Nach vier Stunden Gespräch kannte ich nun auch den Namen meines Laufpartners: Martin. Auf dem nächsten Streckenabschnitt verabschiedeten sich dann die Sonne, das gute Wetter - und leider auch Martin. Ihm ging es nicht gut und er entschied, sich von einem Taxi abholen zu lassen. Pitschnass, alleine und in tiefer Dunkelheit kam ich bei Streckenposten 2 an. Nach über 8 Stunden Gehen war das mein erster Tiefpunkt. Ich trocknete notdürftig meine Sachen, schloss mich zwei Jungs an und stapfte weiter in die rabenschwarze Starnberger Nacht.
Kilometer 41-59:
Mit Mario und Florian, so hießen die zwei, wurde es eine kurzweilige und
lustige Nachtwanderung, doch schon bald wurden sie etwas langsamer und ich
schloss mich der Gruppe vor mir an. Mit ihnen erreichte ich Kilometer 50 und
wir feierten die Durchbrechung der Halbzeit-Marke auf einem Baumstamm mitten im
Wald mit einer kurzen Rast und einem Schluck Wasser aus dem Trinkrucksack.
Wenig später hatte meine GPS-Uhr keinen Akku mehr und noch ein wenig später
meine Laufgruppe. Also wechselte ich wieder und wurde zur „Vorläuferin“ einer
neuen Gruppe, da ich die Einzige mit funktionierendem GPS-Track auf dem Handy
war. In völliger Dunkelheit und auf einem steilen, rutschigen Anstieg unterhielt ich mich Handy-haltend mit einer
sehr sympathisch klingenden Frau. Da sagte sie auf einmal: „Hey, du bist doch
die Ella!“ Es war Petra aus Stuttgart vom Startbereich. Zufälle gibt’s.
So erreichte ich den dritten Streckenposten: ein Gasthaus bei Traubing. Dort gab es eine Tomatencremesuppe, einen Latte Macchiato und jede Menge Menschen, die aussahen, als hätte sie ein Laster überrollt. Der Aufenthaltsraum im oberen Stock glich einem Schlaflager mit Krankenstation. Die knapp 60 Kilometer hatten einigen Teilnehmern bereits ordentlich zugesetzt und für viele war das Abenteuer hier zu Ende. Ich fühlte mich noch recht wohl, lediglich mein Sockenproblem beschäftigte mich: Meine Kompressions-Socken hatten mir dermaßen in die Beine geschnitten, dass ich sie unmöglich weitertragen konnte, und andere hatte ich nicht dabei. Doch dann kam die Rettung: ein junges Mädchen, das aufgrund starker Fußschmerzen aufhören musste. Sie lieh mir ihre Socken. Wieder ein toller Zufall: sie passten perfekt. So konnte es für mich weitergehen.
Kilometer 60-72: Nach der Pause hatten wir uns zu einer Vierer-Frauen-Gruppe zusammengefunden: Petra, Andrea, Rike und ich. Zum Sonnenaufgang ging es am Kloster Andechs vorbei und wir starteten in einen etwas wolkenverhangenen, aber trockenen Tag. Mit ihren 60 und 55 Jahren waren Petra und Andrea extrem flott unterwegs, aber irgendwann fanden Rike und ich zu einem schnelleren Rhythmus und gingen etwas voraus. Allmählich meldete sich mein Problem-Knie links außen, das mich auch schon auf dem Jakobsweg und etliche Monate danach begleitet hatte. Die vielen Bergab-Strecken nach Herrsching verlangten mir und meiner Schmerztoleranz alles ab. Aber dank meines anhaltenden „Laber-Flashs“ redete ich die Schmerzen weg und meiner Laufpartnerin das Ohr ab. So erreichten wir, im Unverstand plappernd, die Zwischenstation „Gasthof zur Post“. Das war ein echter Meilenstein der Strecke. Die Zahl der „Marschierer“ hatte sich inzwischen drastisch reduziert. Wenig später traf auch Mario ein, der solche Schmerzen in den Füßen hatte, dass er meinte, der Weg sei an dieser Stelle für ihn beendet. Wenig später marschierten auch Petra und Andrea an uns vorbei. Andrea lief weiter – sie wollte (oder konnte) nun nicht mehr anhalten – und Andrea dachte eigentlich ans Aufhören. Doch wir überredeten sie weiterzumachen. Und so ging es im Dreierpack auf das letzte Viertel der Strecke.
Kilometer 73-88: Bis zum letzten Streckenposten waren es lediglich 4 Kilometer. Daher machten wir dort keine Pause, sondern nur einen kurzen Toiletten- und Wasser-Stopp. Die letzten 24 Kilometer waren, was ich organisatorisch ziemlich unlogisch fand, ohne offiziellen Streckenposten geplant. Wir quatschten uns bis 12 Kilometer ans Ziel heran, dann lockte ein Mc Donald’s mit einem letzten Latte Macchiato vor dem Zieleinlauf. Was nur ein kurze Pause werden sollte, wurde zu einem längeren Aufenthalt. Denn plötzlich fühlte sich Petra gar nicht mehr wohl. Sie klagte über einen hohen Puls und Unwohlsein. Nach einigem Hin- und Her entschlossen wir uns, die Notfallnummer zu rufen und einen Krankenwagen zu verständigen. Petra wurde abgeholt und vorsorglich ins Krankenhaus zur Untersuchung gebracht. Ihr geht es inzwischen wieder gut. Sie hatte wohl während des Laufens zu viel Magnesium eingenommen, was in Verbindung mit der großen Anstrengung zu dieser Reaktion geführt hatte. Als Rike und ich uns wieder auf den Weg machten, kam plötzlich Mario mit einem neuen Laufpartner, Danilo, um die Ecke geschlappt. Er hatte bei unserem letzten Zusammentreffen am Gasthof ein Paar Flip Flops geschenkt bekommen. Nachdem er sich eine halbe Stunde hingelegt hatte, war er in diesen und abwechselnd barfuß weitergelaufen. Mich wunderte zu diesem Zeitpunkt gar nichts mehr und wir begaben uns gemeinsam auf den letzten Teil unseres Gewaltmarschs.
Kilometer 89-100: Am Anfang noch sehr motiviert, wurde das Laufen mit jedem Kilometer beschwerlicher. Die lange Pause war meinem Körper überhaupt nicht gut bekommen und allmählich wurde es auch für den Kopf anstrengend. Für mich als Läuferin klingen 12 Kilometer wie ein kurzes Mittagspausen-Ründchen, aber beim Gehen sind es knallharte 2-2,5 Stunden auf den Beinen. Zudem gestaltete sich die Strecke auf den letzten Kilometern als ödes An-der-Straße-Entlanglaufen. Doch es half nichts: jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Jungs wurden immer motivierter, unter 23 Stunden ins Ziel zu kommen, also zogen wir nochmal ordentlich das Tempo an. Mit Musik auf den Ohren und im Takt meiner klackenden Stöcke ging es über hässliche Asphaltstraßen zurück zum Start unserer Reise. Die letzten Kilometer schienen sich ins Endlose zu ziehen und zu allem Überfluss begann es dann noch richtig zu regnen. Kurz vor dem Zieleinlauf begann ich lauthals zu fluchen: „So einen Scheiß mach ich nie wieder!“ Doch dann kam er endlich: der kleine Zielbogen, der das Ende unseres Mammutmarschs markierte. Wir hatten es geschafft: 100 Kilometer. 22:40 Stunden. Was ein Irrsinn. Was eine unglaubliche Erfahrung.Der Tag danach.
Im Ziel
angekommen, konnte ich kaum mehr gehen. Besonders die Kniekehle meines linken Beins schmerzte wie die Hölle, sodass mir etwas passierte, was ich nach keinem meiner 13 Marathons erlebt hatte: ich verwandelte mich in einen humpelnden Zombie. Nach
einer ausgedehnten Badewannen-Session und einer großen Mütze Schlaf geht es mir
und meinem Körper ein Tag später sehr viel besser. Beine, Hüfte und Füße zwicken noch, aber das Zombie-Humpeln hat etwas nachgelassen. Und obwohl noch deutlich die 100 Kilometer in meinen Beinen spüre, habe ich mich heute bei dem Gedanken erwischt: „Nächstes
Jahr wieder. Dann etwas schneller.“
Immer das Gleiche mit uns Läufern, Verzeihung, Gehern.
Für alle, die sich ebenfalls auf das Abenteuer „100 Kilometer Gehen“ einlassen möchten, hier meine Tipps: